Zum ersten Mal in seinem noch jungen Leben musste Edi seinen ganzen Mut beweisen. Alle seine Geschwister waren bereits ausgeflogen. Sie hatten den Sprung aus schwindelerregender Höhe geschafft. Doch ausgerechnet Edi, mit seinem zu dicken Bäuchlein und zu kurz geratenen Flügeln, zierte sich bis zum Schluss.
„Was wenn ich falle und sterbe?“, piepste er traurig.
„Liebling, was wenn du abhebst und unendliches Glück erfährst? Wir wählen in jeder Sekunde unser eigenes Schicksal“, erwiderte seine Mutter lächelnd. Sie zwinkerte ihm zu und flog seinen Geschwistern hinterher, die bereits ansehnliche Pirouetten in der Luft schlugen. Edi stellte sich an den Rand des Nestes, atmete tief ein und aus, schloss die Augen und ließ sich fallen.
Seine Muskeln waren starr und sein Herz raste vor Panik. Er schlug wild um sich.
Der Baum federte mit seinen Ästen den Sturz ab und der kleine dicke Vogel landete mit einem lauten Knall im Getreidefeld neben dem Baum. Erleichtert stellte Edi fest, dass er unverletzt den Absturz überstanden hatte. Um Ausschau zu halten, kletterte er etwas umständlich auf zwei Getreidehalmen hoch, die sich unter seinem Gewicht zu biegen begonnen. „Du wirst wieder fallen, wenn du in deiner Angst bleibst“, hörte er eine Stimme unter sich. Verwundert blickte er sich um und sah unter sich Frau Feldhamster stehen, die gerade beim Frühstück war und ihn fragend anblickte.
„Komm zu mir und mache eine Pause. Ich werde dir ein paar Tipps geben, die dir helfen deine Angst zu bezwingen“. Neugierig ließ sich Edi zu Boden plumpsen und lauschte aufmerksam den Worten der alten Dame ...
„Ich bat um Kraft und mir wurden Schwierigkeiten gegeben,
um innere Stärke zu gewinnen.
Ich bat um Weisheit und mir wurden Probleme gegeben,
um sie zu lösen und dadurch Weisheit zu erlangen.
Ich bat um Mut und mir wurden Hindernisse gegeben,
um sie zu überwinden.
Ich bat um Liebe und mir wurden besorgte, unruhige Weggefährten mit
Problemen gegeben, um ihnen beizustehen.
Ich bat um Entscheidungen und mir wurden Gelegenheiten gegeben,
die mich aufforderten, diese zu treffen.
Ich bekam selten was ich wollte, aber ich bekam immer alles,
was ich brauchte.
Kleiner Edi, führe dein Leben also ohne Angst.
Begegne allen Hindernissen mit dem Wissen,
dass du sie überwinden kannst und wirst.
Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,
sondern die Gewissheit, dass es gut ist, egal wie es ausgeht.“
Edi saß mit großen Augen und einem weit geöffneten Schnabel da. „Nun wie geht es dir jetzt?“, fragte Frau Feldhamster vorsichtig nach. Mit einem kräftigen Satz sprang Edi auf und drückte der alten Dame einen Kuss auf die Wange.
„Danke, dass du dein Wissen mit mir geteilt hast. Ich weiß nun genau, was ich zu tun habe!“, strahlte er sie an. Frau Feldhamster winkte ihm lange nach, als Edi sich hüpfend zu Fuß auf den Weg machte.
Nach einer Weile kam er zu einem großen Felsvorsprung, der in die Tiefen eines weiten Tales führte. Edi stellte sich an den Rand des Abgrundes, nahm einen tiefen Atemzug, schloss seine Augen und ließ sich fallen. Seine kleinen Flügel schlugen langsam, achtsam und gleichmäßig. Sein Herz pochte... vor Freude.
„Der größte Ruhm im Leben ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen“, dachte er voller Stolz bei sich, als er hoch über den Wolken dahinsegelte.
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